Ein schöner Start in den Morgen: Ein bisschen entspannt frühstücken und dann einen stressigen Tag. Hausarbeiten schreiben, arbeiten, Assistenz verwalten… Davor ein klein wenig den Sinnlosigkeiten fröhnen, die auf einer App für Studenten anonym gepostet werden. Eigentlich mag ich das. Ich genieße es, mich auch mal normal fühlen zu können, in einer Umgebung, in der das eigene Versagen gefeiert und viel von dem Druck, der auf einem lastet, durch Banalisierung gemildert wird.
Meist zelebriere ich das richtig. Doch in letzter Zeit mischen sich kleine Inseln des Ärgers in mein morgentliches Vergnügen. Es scheint Konsens geworden zu sein, auf unliebsame Fragen oder Ansichten mit einer ganz speziellen Gegenfrage zu antworten: Ob du behindert bist? Bisher habe ich das immer ignoriert. Habe zwar die Stirn gerunzelt, aber mich dazu gezwungen zu schweigen. Ich wollte nicht überempfindlich sein. Wollte nicht zu den Klischéebehinderten gehören, die sich über alles und zwar wirklich alles beschweren. Ich wollte normal sein und dazu gehören.
Und dann kam heute morgen ein Post. Genau über dieses Thema. Dass Behinderung als Schimpfwort überhand nimmt und dass das falsch ist. Der „Jodler“ wurde sofort mit dem üblichen Muster beschimpft. Ob er denn wohl behindert sei. Wohlgemerkt nicht als Frage. Diesmal konnte ich nicht mehr schweigen. In zwei Antworten habe ich versucht meine Sicht der Dinge zu erklären. Das enttäuschende Ergebnis: Dieser sogenannte Jodel wurde einfach herausgenommen. Und genau das hat mir eines klar gemacht:
Die wenigsten wollen zuhören. Gerade Menschen in meinem Alter haben keine Lust, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die nicht gerade sexy sind. Aber genau die sollten zuhören:
Vor gar nicht so langer Zeit wurden Leute wie ich noch weggesperrt. In Heime, wo sie wie Topfpflanzen verwelkten. Immer noch werden Menschen wie ich zu Topfpflanzen gemacht. Menschen, die genauso intelligent sind wie ich, werden zu völlig hoffnungslosen Existenzen gemacht, die vegetieren und die mit System stumpf gehalten werden. Weil es einfach praktischer ist. Wisst ihr das? Oder wollt ihr es nicht wissen?
Der Großteil der Behinderungen sind erworben. Jeden kann das treffen. Jeden einzelnen von euch. Und was macht ihr? Anstatt dankbar zu sein, dass ihr unser Schicksal nicht teilt, degradiert ihr uns.
Und ja, keiner von euch würde jemanden wie mich auf der Straße blöd anmachen, auch körperlliche Übergriffe gehören der Vergangenheit an. Keiner würde es wagen, mir Hilfe zu verweigern, wenn ich auf euch zu fahre und darum bitte. Aber ich sehe die Angst und das Misstrauen in euren Augen. Ich spüre, dass ihr versucht, mich so schnell wie möglich loszuwerden, weil ihr euch unsicher seid. Ihr traut euch nicht mal, mir die Hand zu geben. Ihr sprecht lieber meine Assistenten an, statt mich. Und natürlich kommt das auch daher, dass wir Behinderten uns zu lange versteckt haben. Viele von uns haben und hatten auch Angst.
Aber dadurch, dass ihr unseren Zustand als Schimpfwort benutzt, beleidigt ihr uns nicht nur. Darüber könnte man hinweg sehen. Menschen, wie ich, sind Demütigungen und Schmerz gewohnt. Ihr zeigt, dass ihr kein Stück besser seid, als diejenigen, die vor ein bisschen weniger als hundert Jahren Existenzen ausgelöscht haben, weil sie bedauernswert wären und es eine Gnade wäre, sie zu erlösen. Ihr seid nur noch feiger. Statt euch mit mir auseinanderzusetzen, löscht ihr den Post beziehungsweise votet ihn ins Nirvana. Statt mich öffentlich anzugreifen, tut ihr lieber so, als wäre ich nicht da. Als wäre Behinderung ein Gespenst, dass wie Frau Holle, denen den Bauch aufschneidet, die nicht brav waren.
Aber dieses Gespenst wird mich eines Tages umbringen. Für mich ist es kein Gespenst, sondern das Damoklesschwert, das am Pferdehaar über meinem Kopf baumelt. Wenn ich ehrlich bin, beneide ich euch. Ich hätte so gerne ein Leben, in dem mir Bauarbeiter hinterherpfeifen oder mein Studium durch meine Feierkultur bedroht ist. Wenn ich über die Dinge lese, die euer Leben ausmachen, dann werde ich traurig. Nicht weil ich sie gerne hätte, sondern weil ich wünschte, ihr könntet die Schönheiten darin mehr schätzen. Weil ich euch manchmal gerne eure Schwierigkeiten abnehmen würde, damit ihr das genießen könnt, was ich nie hatte. Damit ich wieder davon lesen oder hören kann. Und sie in Gedanken auch durchleben kann.
Ich verlange nicht, dass ihr Behinderungen nicht mehr seltsam findet. Ich wünschte nur, dass ihr es nicht mehr nötig hättet, andere mit einem so schrecklichen Zusand herabzusetzen, sondern, dass ihr froh seid, ihn nicht zu erleben. Noch nicht so auf andere angewiesen zu sein. Ich bitte euch, seid dankbar, für das ihr habt. Und schaut nicht in Verachtung auf uns. Denn die haben weder wir noch ihr verdient.